Katalogtext von Harriet Zilch
in »Tobias Buckel: Raumdilemma«, Snoeck 2020

 

„Ich halte es mit der Langsamkeit und glaube auch nicht an den Mehrwert von Spontaneität, eher an Intuition, was ein großer Unterschied ist.“ [1]
Per Kirkeby

 

SLOW PAINTING

Überlegungen zur Malerei von Tobias Buckel
 

Tobias Buckel ist ein bildkritischer Maler. Er misstraut der visuellen Kommunikation der Massen­medien, deren Bilder Sehnsüchte wecken, die sie nicht erfüllen können, wohl auch nicht wollen. Zugleich beargwöhnt er die allgemeine Beschleunigung unserer Gegenwart, die der Medien­theoretiker Paul Virilio bereits 1990 in kritischer Distanzierung als „rasenden Stillstand“ bezeichnet hat: eine technologisch herbeigeführte, wahnwitzige Beschleunigung unserer Zivilisation, die letzt­lich zu deren Niedergang führen werde. [2] So ist die Reflexion darüber, welche Bilder ein Maler in dieser bildüberfluteten wie effizienzorientierten Welt schaffen sollte, für Tobias Buckel ebenso zentral, wie die Frage danach, was die Malerei von anderen visuellen Medien unterscheidet und zum Medium seiner Wahl werden lässt. Einen Lösungsansatz findet er in der expliziten Langsamkeit seiner Malerei. Stets sind seine Gemälde ein Plädoyer für ein langwieriges, prozessuales Arbeiten und damit ein Gegenentwurf zum allgemeinen Streben nach Geschwindigkeit und Effizienz: „Für mich widersetzt sich Malerei dem schnellen Konsum. Sie ist ein ‚langsames‘ Medium, das es schaf­fen kann, Lücken in unseren Sehgewohnheiten aufzutun. Auch wenn wichtige Entscheidungen im Atelier oft intuitiv getroffen werden, geschehen sie doch bewusst – sie werden reflektiert und bewertet, sind eben nicht zufällig. Und auch das fertige Bild, in dem alle Entscheidungen auf einen Moment zusammenfallen, verlangt anschließend Zeit und Aufmerksamkeit vom Betrachter, um das Dargestellte einzuordnen und für sich selbst auszuwerten.“ [3]

Die Gemälde von Tobias Buckel wachsen organisch, warten oft über Monate unvollendet im Atelier, bevor die Arbeit erneut aufgenommen und die Suche nach Motiv, Form und Farbgebung weiter­geführt wird. In einem ergebnisoffenen Prozess wird die Komposition wieder und wieder über­arbeitet und die Beschaffenheit wie Motivik der Bildoberfläche verändert. Der tradierte Gegensatz zwischen Oberfläche und Bildtiefe wird konsequent unterlaufen, da die finale Version des Gemäldes den Blick auf die Sedimente erlaubt, die auf der Leinwand abgelagerten sind. Ein auf­merksamer Betrachter wird das Nachdenken während des Malprozesses, die Neuansätze und reflektierten Variationen der Gemälde wahrnehmen: ein Farbton, der diffus aus der Bildtiefe hervorscheint; grafische Strukturen, die als Protagonisten der Vorversionen im Hintergrund schlummern; verblichene Architekturelemente, die mit räumlichen Vorstellungen spielen ohne sich zwangsläufig dreidimensional zu konkretisieren; schemenhafte Bildelemente, die mit Lösungsmittel abgewaschen wurden und nun eine Ästhetik des Unbestimmten vermitteln. All diese Elemente sind Repräsentanten einer prozessualen Werkgenese und demonstrieren eine Bild­findung zwischen Reflexion und Intuition, Zögern und spontanem Handeln, vorsichtigen Schritten und gravierenden Eingriffen. Doch selbst ein drastischer Eingriff, eine vermeintlich spontane malerische Geste, kann in Wahrheit das Resultat komplexer und langwieriger Denkprozesse sein. [4] So geht es Tobias Buckel nie um die Visualisierung bestimmter Sachverhalte oder um irgendeine Form der Narration. Im Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses stehen vielmehr die Form und ihre grafische Wirkung sowie die Bildung von Metaphern und assoziationsreichen Zeichen. Die Reflexion über das Medium Malerei ist diesen Bildern stets inhärent, und die elementaren Fragestellungen nach Form und Struktur, Farbe und Komposition, Räumlichkeit und Flächenaufteilung werden klug verhandelt.

Motivisch zeigen zahlreiche Gemälde Räume und Raumgefüge. Stets handelt es sich um inszenierte Räume wie beispielsweise Interieurs als Orte der Selbstrepräsentation; Displays oder modellhafte Bühnenräume; Gärten als Repräsentanten domestizierter und ästhetisierter Natur; künstliche Landschaften mit kulissenhafter Architektur wie Grotten- oder Ruinenensembles. Zu den wieder­kehrenden Motiven gehören auch repetitive Wand- und Bodenstrukturen, die bisweilen an Mauer­werk, Ziegelsteine, Bodenfliesen, Jalousien oder Maschendraht erinnern. Die Formwiederholungen und Aneinanderreihungen der immer gleichen grafischen Elemente strukturieren und rhythmisieren die Bildoberfläche. Viele Leinwände weisen auch eine Betonung der horizontalen oder vertikalen Bildmitte oder eine Zweiteilung der Leinwand auf, in der oben und unten, rechts und links sich gegeneinander sperren und zu behaupten versuchen.

Tobias Buckels Gemälde sind Inszenierungen von Inszenierungen, da bereits die Vorlagen, mit denen der Künstler arbeitet, inszenierte Orte, konstruierte Räume, Displays und Landschaften zeigen. Letztlich sind seine gemalten Räume auch keine Räume. Weder besitzen sie Volumen noch sind sie den Gesetzen der Perspektive oder der Schwerkraft verpflichtet. Physikalische, mathe­matische und visuelle Gewissheiten gelten nicht, da sie immer wieder gestört und hinterfragt werden. Die finalen Kompositionen erinnern viel eher an imaginierte Räume und Landschaften, denn wie in einem Traum oder einer nebulösen Erinnerung existieren keine verlässlichen Parameter der Welterklärung. Befördert wird die seltsam vage und unerklärliche Atmosphäre durch den spezifischen Umgang mit Farbe und Farbigkeit. Die vom Künstler teils selbst gemischten Leim­farben sitzen matt, pudrig, fast kreideartig stumpf auf der Leinwand. Oft wird das Malmittel mit Weiß abgemischt, woraus ein diffuses Anti-Kolorit resultiert. Da die Farben vielfach sehr flüssig verwendet werden, kristallisieren Farbverläufe und -pfützen auf der Leinwand aus und befördert den teils transluzenten, verwaschenen Eindruck der Gemälde.

Im besten Fall korrespondiert die langsame Entstehung dieser Werke mit einer entschleunigten Rezeption. Mit der Fokussierung und Kontemplation des Betrachters, der sich im Nachvollzug dem künstlerischen Prozess der Langsamkeit stellt, erhält dieser vertiefte Einblicke in die Entstehung der Bilder. Die konzeptuelle Langsamkeit der Werkgenese wird erfahrbar, da physische wie mentale (Lebens-)Zeit den Gemälden eingeschrieben scheint. Vielleicht sieht der Betrachter gar die fortdauernde Innovationsfähigkeit der Malerei bestätigt, steht diese doch im Widerspruch zu einer omnipräsenten Bildindustrie, die interpretatorisch eindeutige Bildinformationen produziert und den Rezipienten immer wieder und wieder das bereits Vertraute anbietet. Malerei kann hingegen anspielungsreiche, visuelle Metaphern entwerfen, die unserer komplexen Welt eher entsprechen. Sie ist kein eindimensionales Welterklärungsmodell, sondern lässt Leerstellen, die für den Betrach­ter Assoziationsräume und Bezugsfelder öffnen können. Der belgische Maler Luc Tuymans hat diese Offenheit 2001 in einem Interview beschrieben: „Ein gutes Bild zeichnet sich dadurch aus, dass der Betrachter ihm noch etwas hinzufügt. Ein bereits ganz ausformuliertes macht keinen Sinn mehr. Deshalb ist es entscheidend, dass man sich als Maler zurücknimmt und irgendwo, also genau da aufhört, wo noch etwas unformuliert bleibt. […] Denn genau da befragt der Betrachter das Bild.“ [5] Tatsächlich sind es oft nicht die visuellen Wohlfühlzonen, sondern die interpretatorisch offenen, spröden und sperrigen Arbeiten, die sich beim Betrachter festsetzen und nachklingen. Die Bilder, die zunächst unverständlich sind, die Rätsel aufgeben und im Widerspruch zum vertrauten Umgang mit Bildern stehen. Auch die Gemälde und Zeichnungen von Tobias Buckel sind offene, inhaltlich vieldeutig Bildmetaphern. Sie verharren in einem fragilen Schwebezustand, befinden sich in einer Balance zwischen Figuration und Abstraktion, Deskription und Zufälligkeit, vollendet und unvollendet Scheinendem. Die vermeintlichen Gegensätze werden nicht gegeneinander ausge­spielt, sondern dürfen sich nebeneinander behaupten.

Harriet Zilch

 

[1] Per Kirkeby. Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, Band 135, 1996, S. 260ff.

[2] Vgl. Paul Virilio, Rasender Stillstand, München 1992.

[3] Tobias Buckel. Über meine Malerei, unveröffentlichtes Portfolio, o. S.

[4] 1980 „entlarvte“ die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss in ihrem Aufsatz The Originality of the Avant-garde and Other Modernist Myths die malerische Geste als einen modernistischen Mythos. Sie zeigte, dass dem „spontanen“ Pinselstrich, mit denen der Impressionist Claude Monet äußere Natureindrücke wiedergab, ein komplexes System zugrunde liegt, das auf Serialität und Wiederholung basiert.

[5] Luc Tuymans. Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks. in: Kunstforum International, Band 156, 2001, S. 340ff.